Direkt zum Inhalt

GÖG-Colloquium | Reduktion von Zwang(smaßnahmen) in der Psychiatrie

Beginn der Veranstaltung:17.09.2025, 17:30 Uhr
Ende der Veranstaltung:17.09.2025, 19:00 Uhr
Veranstaltungsort:online via Zoom

Die GÖG lud zum Colloquium: Reduktion von Zwang(smaßnahmen) in der Psychiatrie. Erfahrungen aus Heidenheim und Bremen. Möglichkeiten der Umsetzung in Österreich

Key-note-Speaker
Dr. Martin Zinkler ist Psychiater und Psychotherapeut. Er arbeitete in leitenden Funktionen in der psychiatrischen Versorgung in London, Heidenheim/Brenz und zuletzt in Bremen. Die Klinik in Heidenheim wurde 2021 von der WHO als Good Practice Beispiel in ihre Leitlinien aufgenommen (LINK). 

Teilnehmende an der Podiumsdiskussion: Dr. Michael Halmich / Jurist und Ethikberater, Forum Gesundheitsrecht (Leitung), Mag. Edwin Ladinser / HPE Österreich Hilfe für Angehörige psychisch erkrankter Menschen (Geschäftsführer), Mag. Christine Müllner-Lacher, MSc. / VertretungsNetz Patientenanwaltschaft (Bereichsleiterin Salzburg-Tirol), OA Dr. Joachim Scharfetter / zuvor FOSTREN, nunmehr EViPRG (European Violence in Psychiatrie Research Group), Klinik Donaustadt, Univ. Prof. Dr. Kathrin Sevecke / Medizinische Universität Innsbruck, Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter (Leitung) und Christopher Tupy / Dachverband IDEE Österreich (Generalsekretär)

Hintergrund und Ziele der Veranstaltung
Nach aktuellen Versorgungsgrundsätzen soll die psychiatrische Versorgung gemeindenah, qualitätsvoll, menschenrechtsbasiert und recovery-orientiert sein. Dies impliziert u. a. ein Bekenntnis zur Reduktion und Vermeidung von Zwangsmaßnahmen. In der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichten sich die Vertragsstaaten – so auch Österreich – dazu Menschenrechte zu fördern, schützen und zu gewährleisten. Auch die WHO empfiehlt für die psychosoziale Gesundheit/Versorgung eine Entwicklung weg von einer primär medizinischen Symptombehandlung hin zu menschenrechtsbasierten, personenzentrierten, ganzheitlichen und recovery-orientierten Praktiken, die die Menschen im gesamten Lebenskon-text betrachten, ihren Willen und ihre Präferenzen bei der Behandlung respektieren, Alternativen zu Zwang anwenden und das Recht der Menschen auf Teilhabe und Inklusion in die Gemein-schaft aktiv fördern (WHO 2021).
In der Umsetzung kann das geringfügige Anpassungen bis hin zu einem grundlegenden Umdenken erfordern. Es geht u.a. darum, dass in Akut-/Krisensituationen freiheitsbeschränken-de (Zwangs-)Maßnahmen, soweit möglich verhindert, jedenfalls jedoch auf das Minimum (Umfang, Dauer) beschränkt und – erst nach Ausschöpfen aller anderer möglicher Maßnahmen – als letztes Mittel zur Anwendung kommen.  

Dieses Colloquium sollte für die o. a. Themen sensibilisieren, über zentrale internationale Grundlagen und Bezugspunkte informieren (UN-BRK, WHO, etc.) und Erfahrungen aus Deutschland inkl. Learnings für Österreich behandeln. 

Zusammenfassung
An der Veranstaltung nahmen rund 140 Personen aus den Bereichen Verwaltung, Politik, Forschung und Praxis (ambulante und stationäre Einrichtungen, NGOs) teil.

In seinem Vortrag skizzierte Dr. Zinkler eindrücklich die menschenrechtlichen Grundlagen der UN-Behindertenrechtskonvention und deren Implikationen („An allen Orten, an denen Menschen die Freiheit entzogen wird, sollen keine Zwangsmaßnahmen zum Einsatz kommen“) sowie aktuelle Leitlinien auf europäischer und WHO-Ebene („Das Recht auf Gesundheit beruht auf der Beachtung der Menschenrechte“). Anschließend ging er darauf ein, wie sich das System nach diesen Grundsätzen weiterentwickeln bzw. wie eine völlig zwangsfreie Psychiatrie dann aussehen müsste. Dabei brachte er konkrete Umsetzungsbeispiele zur Reduktion von Zwang in der Psychiatrie basierend auf den Erfahrungen in psychiatrischen Kliniken in Heidenheim und Bremen. Er betonte dabei, dass solche Veränderungen nicht „von heute auf morgen“ stattfinden können, sondern die Reduktion bzw. Abschaffung von Zwang als Prozess gesehen werden muss. Laut seiner Einschätzung ist die psychiatrische Versorgung in Deutschland und Österreich derzeit noch weit entfernt von den genannten Zielen.

Mögliche Schritte, damit die Reduktion von Zwang in der psychiatrischen Versorgung besser gelingt sind aus seiner Sicht:

  • Die Arbeit mit „offenen“ statt mit „geschlossenen“ Stationen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass in diesem Setting weniger Zwangsmaßnahmen und weniger Entweichungen stattfinden; keine Unterschiede bezüglich der Suizidrate erkennbar sind (vgl. auch Huber et al. 2016, Lancet Psychiatrie)
  • Eine offene Haltung: Erfahrungswissen nützen, Einbeziehung von Selbsthilfeorganisationen, Angebote der Peer-to-Peer-Beratung integrieren, Einsatz von Genesungsbegleiter:innen etc.
  • Der Einsatz von Behandlungsvereinbarungen, Vollsorgevollmacht, Patientenverfügungen als Mittel zur Förderung der Autonomie;
    Die Gestaltung von Visiten nach personenzentrierten Ansätzen z. B. mit der Methode des „offenen Dialogs“; „Therapieversammlungen“ mit dem Unterstützungssystem von ca. 20 Minuten statt üblicher (Kurz)Visiten;
  • Erfassung von Wünschen und Präferenzen im Rahmen der Anamnese bzw. Behandlungsplanung; Erstellung individueller Behandlungs- und Krisenpläne;
  • Ausbau von ambulanten Angeboten z. B. Tageskliniken, Krisenangeboten sowie der Einsatz von aufsuchenden Behandlungsformen z. B.  Hometreatment Teams 
  • Recovery-orientierte Behandlung und entsprechende Weiterbildung aller Berufsgruppen

In der anschließenden Podiumsdiskussion mit österreichischen Expertinnen und Experten wurde die Frage aufgegriffen, wie die Situation in Österreich eingeschätzt wird und welche Veränderungen in der psychosozialen, psychiatrischen (Akut-)Versorgung vorgenommen werden können, um Wille und Präferenzen der Betroffenen stärker beachten zu können und Zwangsmaßnahmen zu reduzieren. Die Diskussion warf u.a. die Frage auf, ob eine psychiatrische Versorgung ohne UbG Bereich („geschlossener Bereich“) überhaupt möglich und sinnvoll ist und inwieweit die Anforderungen auf eine zwangsfreie Psychiatrie auf den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie übertragbar sind. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass das Thema breiter zu sehen ist („medizinischer Zwang ist nicht nur ein Problem der Psychiatrie!“).

Als nächste mögliche Schritte nannten die Expertinnen und Experten ein kontinuierliches Monitoring von Zwangsmaßnahmen, den Ausbau von extramuralen Angeboten („durch die richtigen Angebote im Vorfeld den Zwang nicht mehr notwendig machen“), die Wünsche der Patientinnen/Patienten im Aufnahmedokument integrieren, Maßnahmen zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen forcieren (Bildungsbereich, Medien) sowie eine stärkere Berücksichtigung der Empfehlungen der Aufsichtsorgane z. B. Volksanwaltschaft und OPCAT-Kommission.

Fazit war, dass es in Österreich erfreuliche Entwicklungen gibt, wie beispielsweise die letzte UbG-Novelle (2022). Das UbG definiert, dass ein Freiheitsentzug nur als ultima ratio zulässig ist und sieht bei jeglichen beschränkenden Maßnahmen eine Vorab-Prüfung von Alternativen sowie der Erforderlichkeit sowie Verhältnismäßigkeit vor. Die Novelle bringt eine Stärkung der Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung von Patient:innen und eine stärkere Einbindung von Angehörigen mit sich. Die Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern und Patientenanwaltschaft wurde positiv erwähnt. Geortet wurden jedenfalls ein Handlungsbedarf und die Notwendigkeit eines politischen Auftrags, beispielsweise für einen Nationalen Aktionsplan, der alle Akteure zusammenbringt und Maßnahmen für die psychiatrische Praxis formuliert damit Menschenrechte und die entsprechenden Empfehlungen zur Reduktion von Zwang eingehalten werden können. Außer Streit stehen dabei Ansätze und Konzepte wie Personenzentrierung, Gemeindepsychiatrie, Recovery Orientierung, Hometreatment und Open Dialogue.

Weiterführende Links:

Quality Rights Training der WHO
WHO: Guidance on mental health policy and strategic action plans

United Nations

Bild
Martin Zinkler © private
Foto: Martin Zinkler © private