REITOX Academy: Schädlicher bzw. nichtindizierter Gebrauch von psychotropen Arzneimitteln – Relevanz und Herausforderungen für die Suchthilfe
Der gesundheitsschädliche Gebrauch psychotroper Medikamente ist auf den ersten Blick oft schwer zu konstatieren. Auch lässt er sich nicht immer einer spezifischen Risikogruppe zuordnen. Die davon betroffenen Patientengruppen haben oftmals keine einheitliche Anlaufstelle und docken entweder an suchtspezifische oder an sozialpsychiatrische Versorgungsstrukturen an. Ihre Betreuung und Behandlung stellt sowohl die Einrichtungen der Suchthilfe als auch die sozialpsychiatrischen Einrichtungen vor große Herausforderungen. Im Rahmen der REITOX Academy wurde dieses komplexe Themenfeld unter Einbringung von Erfahrungen aus der klinischen Praxis diverser Versorgungsstrukturen differenziert betrachtet. Die Vortragenden boten einen umfassenden Überblick über wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Zugänge in der Suchtbehandlung.
Dr. Uwe Verthein, Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf präsentierte Ergebnisse des Projekts ProMeKa, in dem Verschreibungsdaten von Medikamenten mit erwiesenem Abhängigkeitspotenzial (Benzodiazepine, Z-Substanzen, Opioid-Analgetika) und von Antidepressiva ausgewertet wurden. In Deutschland kann davon ausgegangen werden, dass die Abhängigkeit von psychotropen Medikamenten die zweitgrößte Prävalenz nach Nikotin hat. Studienergebnisse zeigen u. a. gender- und altersspezifische Unterschiede in der Verschreibungspraxis wie auch in Bezug auf die Verschreibungsdauer.
Dr. Christian Korbel, Vorstand der Psychiatrischen Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen im Landesklinikum Mauer (Niederösterreich), berichtete von Erfahrungen mit dieser Thematik aus Sicht einer stationären Entzugsstation, die vorwiegend Patientinnen/Patienten mit Abhängigkeiten von illegalen Substanzen behandelt. Seine Erfahrungen zeigen, dass bei dieser Patientengruppe oftmals eine Reduktion oder Umstellung der Medikamente vorrangig ist. Generell kann die Behandlung der Medikamentenabhängigkeit sehr gut im niedergelassenen Bereich erfolgen. Eine stationäre Behandlung ist in manchen Fällen im Sinne einer vorbereitenden Stabilisierung bspw. im Falle hochdosierter Medikamente zielführend.
Dr. Hans Haltmayer, ärztlicher Leiter des Ambulatoriums Suchthilfe Wien und Beauftragter der Stadt Wien für Sucht- und Drogenfragen, gab einen Einblick in die Praxis einer niederschwelligen Suchthilfeeinrichtung. Aus seiner Sicht führten die „Leitlinie zum Umgang mit dem schädlichen Gebrauch und der Abhängigkeit von Benzodiazepinen bei Patientinnen und Patienten in Erhaltungstherapie mit Opioiden“ und die flankierenden rechtlichen Regelungen 2012 maßgeblich zu einer Reduktion der Benzodiazepinverschreibungen in Österreich. Die Erfahrungen zeigen, dass der Benzodiazepinkonsum bei Suchtpatientinnen/-patienten über eine gemeinsame und tägliche Abgabe des Substitutionsmedikaments stabilisiert werden kann.
Dr. Stefan Sinz, ärztlicher Leiter der Suchtberatung Obersteiermark, berichtete von seinen Erfahrungen in der Behandlung von Patientinnen/-patienten mit reiner Benzodiazepinabhängigkeit ohne illegalen Substanzkonsum. Er betonte u. a. die Wichtigkeit dieser gut wirkenden Medikamente in psychischen Krisensituationen, bei denen eine kurzzeitige Verschreibung indiziert ist.
Die rund 30 Teilnehmenden kamen vorwiegenden aus Behandlungs- und Beratungseinrichtungen der Suchthilfe, aber auch die Wohnungslosenhilfe, Reintegrationsangebote und Haftanstalten wie auch die Bundessuchtkoordination und einige Ländersuchtkoordinationen waren vertreten.